Flucht und Vertreibung in der Bibel
Flucht und Vertreibung in der Bibel
In den vergangenen Wochen und Monaten sind viele Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Sie flüchten vor den Erfahrungen von Krieg und Terror, aber auch vor Hunger und Perspektivlosigkeit. Die Reaktionen reichen von bewusster Zuwendung und dem Wunsch, die Flüchtlinge willkommen zu heißen, bis hin zu Befürchtungen, ob wir die Aufnahme dieser großen Zahl von Menschen fremder Kultur finanziell und gesellschaftlich werden leisten können.
Die Bischöfe haben in einem Hirtenwort im Oktober bewusst zur Mithilfe bei der Aufnahme der Flüchtlinge aufgerufen und daran erinnert, dass wir in jedem Menschen das Angesicht Jesu Christi erkennen. So wie Jesus im Matthäus-Evangelium sagt: „Was ihr dem geringsten meiner Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40)
Bei all diesen Überlegungen lohnt sich ein Blick in die Bibel. Sie ist voll von Geschichten über Flucht und Vertreibung. Gleich am Anfang, im Buch Genesis, wird berichtet, wie die ersten Menschen, Adam und Eva, aus dem Paradies vertrieben werden. Sie hatten sich nicht an die Regeln gehalten. Diese Geschichte macht grundlegend deutlich, wohin es führt, wenn Menschen egoistisch handeln und sich nicht an die Regeln des Lebens halten.
Als Gott Mose seine Lebensregeln, die zehn Gebote, übergibt, betont er: Diese Gebote gebe ich euch, damit ihr leben könnt in dem Land, das ich euch geben werde. Das ist das erste Anliegen Gottes: Er möchte, dass alle Menschen leben können! Dazu ist manchmal auch Veränderung notwendig.
Abraham, der schon 75 Jahre alt ist, wird von Gott in ein neues, unbekanntes Land geschickt. Dort soll er als Fremder leben. Das Experiment gelingt und Abraham wird, wie von Gott verheißen, zum Stammvater eines großen Volkes.
Jakob und seine Söhne
Zu den Nachkommen Abrahams gehört Jakob, später Israel genannt. Er hat zwölf Söhne. Unter ihnen gibt es Neid und Streit. Sie fühlen sich zurückgesetzt, weil Jakob angeblich seinen Sohn Josef vorzieht. Aus diesem Neid entstehen ungute Gedanken bis hin zum Mord. Nur knapp entgeht Josef dem Brudermord. Er wird aber entführt und schließlich als Sklave verkauft.
Was als familiäre Katastrophe beginnt, führt aber dennoch zum Leben. Josef arbeitet sich in Ägypten durch seine Fähigkeiten hoch, vom Sklaven zum obersten Verwalter des Pharaos. Er trägt dazu bei, dass viele Menschen überleben können, indem er klug mit den Ressourcen des Landes umgeht. Durch seine kluge Vorratshaltung steht in Zeiten der Dürre ausreichend Nahrung für viele Menschen zur Verfügung. Von überall her kommen Menschen aus den umliegenden Ländern, weil sie sich in Ägypten eine Zukunft ohne Hunger und Leid erhoffen. Wirtschaftsflüchtlinge würden wir sie heute nennen. So kommen auch Jakob und seine ganze Familie in dieses fremde Land. Zunächst werden sie willkommen geheißen, werden integriert. Später kippt die Stimmung, man hat Angst vor der anderen Kultur und Religion. Die Hebräer, wie man sie nun in Ägypten nennt, werden zu Sklaven, man versucht ihre Zahl zu dezimieren.
Das Volk Israel
Und wieder greift Gott ein, ermöglicht das Leben derer, die nicht auf Gewalt und Hass setzen. Das Volk Israel flüchtet aus Ägypten und kommt auf Umwegen in ein Land, das ihm eine Lebensperspektive bieten kann. Aber auch dieser Weg ist nicht konfliktfrei. Immer neue Forderungen und Misstrauen blockieren den Weg in das gelobte Land. Wer nicht bereit ist, sich auf das neue Land und seine Gegebenheiten einzulassen, kann dort keine Zukunft haben.
Das Buch Rut
Ein anderes Beispiel für eine Familie, die aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verlässt und flüchtet, ist die Familie des Elimelech im Buch Rut. Ausgerechnet in Bethlehem, dem „Haus des Brotes“, gibt es kein Brot mehr. Es herrscht Hungersnot, keine Lebensperspektive mehr. Da ist es selbstverständlich, in ein anderes, fremdes Land zu ziehen und dort eine Zukunft zu suchen. Der Mann macht sich mit seiner Frau und seinen beiden Söhne nauf den Weg und zieht fort. Die Integration im fremden Land gelingt, beide Söhne heiraten einheimische Frauen. Aber Elimelech stirbt, auch seine Söhne, die Frauen bleiben allein zurück. Da stellt sich wiederum die Frage: Bleiben oder in die Heimat zurück? Es wird deutlich, wie Verbindungen auch über Grenzen von Kulturen und Religionen möglich sind. Rut bringt es gegenüber ihrer Schwiegermutter Noomi zum Ausdruck: „Dein Gott ist mein Gott und dein Volk ist mein Volk.“ Auch diese Geschichte hat ein Happy End: Rut findet einen neuen Mann und die Zukunft ist gesichert.
So setzen sich die Geschichten rund um Krieg, Vertreibung und Neubeginn fort. Ein dramatisches Beispiel ist das „babylonische Exil“. Das Volk Israel wird vernichtet und vertrieben, darf im Exil seine Religion nicht ausüben. Aber auch hier wendet sich das Blatt, der Rest des Volkes darf heimkehren, eine neue Zukunft wird möglich, Erfahrungen aus der fremden Kultur fließen ins neue Leben in der Heimat mit ein.
Die heilige Familie
Die wohl bekannteste Flucht-Geschichte des Neuen Testamentes spielt zur Weihnachtszeit. Die Umstände der Geburt Jesu sind schon dramatisch genug. Ungewollte Schwangerschaft, offene Frage der Vaterschaft, ein Bräutigam, der abhauen will. Kurz vor der Geburt der Befehl zur Volkszählung, mühsame Reise, kein Hotelzimmer frei. Und dann auch noch Engel, Hirten, Sterndeuter und alte Leute im Jerusalemer Tempel, die merkwürdige Dinge erzählen. Aber das Schlimmste: Plötzlich ein durchgedrehter König, der alle neugeborenen Jungen umbringen lassen will, um ein einziges Kind loszuwerden. Da hilft nur eins: Mutter und Kind einpacken und wieder nach Ägypten flüchten. Mit allen Problemen: kein Geld, fremde Sprache und Kultur, Arbeit finden. Erst Jahre später können sie in die Heimat zurückkehren.
In all diesen oft dramatischen Erzählungen taucht eines immer wieder auf: Die Erfahrung, dass Gott Leben ermöglichen will. Leben und Zukunft werden möglich.
Als Christen glauben wir, dass diese Zusage Gottes auch heute noch gilt, für alle! Aber es braucht Menschen, die bereit sind zu teilen, andere aufzunehmen, ohne Angst in eine gemeinsame Zukunft zu gehen.
Überall gibt es Beispiele, dass Menschen dazu bereit sind. Manches muss noch besser koordiniert werden, oft aber helfen spontane zwischenmenschliche Kontakte.
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(Dieser Artikel stammt aus unserem Gemeinde-Journal „Salz der Erde“ 2015/3, S. 3-4.)