Stalingrad-Madonna

Stalingrad-Madonna

Als ich vor einigen Jahren in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche an einer Kirchenführung teilnahm, endete diese in einer kleinen Nische. Dort hängt eine Kohlezeichnung, bekannt unter dem Namen „Stalingrad-Madonna“.

Dieses Bild, das mich so berührt hat, erscheint mir für unsere diesjährige Weihnachtsausgabe des „Salz der Erde“ geradezu prädestiniert zu sein – und das unter mehreren Aspekten. Da ist zum einen die Entstehungsgeschichte, die betroffen macht, das Motiv und die künstlerische Umsetzung, zum anderen aber auch die Verbindung vom Weihnachtsfest 1942 zum Weihnachtsfest 2022, an dem wieder ein Krieg ausgetragen wird.

Die Zeichnung ist Weihnachten 1942, also vor genau 80 Jahren entstanden, mitten im Zweiten Weltkrieg in Stalingrad, einem Ort, der mit den schlimmsten Schlachten der Geschichte assoziiert wird. Wie kam es dazu?

Der in Hessen als Pfarrer tätige Dr. Kurt Reuber wurde, da er zugleich Mediziner war, als Lazarettarzt nach Stalingrad abgeordnet. Hier wollte er zum Weihnachtsfest 1942 der düsteren Stimmung im „Kessel von Stalingrad“ entgegenwirken – und zwar beabsichtigte er, mit einer Zeichnung etwas weihnachtliche Stimmung, Hoffnung und Trost aufkommen zu lassen.

Er zeichnete auf der Rückseite einer russischen Landkarte (Fläche 105 x 80 cm) in einem dunklen Unterstand unter schwierigen Bedingungen eine Madonna mit Kind. Das Bild trägt die Umschrift: 1942 WEIHNACHTEN IM KESSEL FESTUNG STALINGRAD LICHT LEBEN LIEBE. Die Umschrift wirkt in ihrer Anordnung wie en Bilderrahmen. An seine Frau schrieb er über diese Darstellung: „Das Bild ist so: Kind und Mutterkopf zueinander geneigt, von einem großen Tuch umschlossen, Geborgenheit und Umschließung von Mutter und Kind. Mir kamen die johanneischen Worte: Licht, Leben, Liebe. Was soll ich dazu noch sagen? Wenn man unsere Lage bedenkt, in der Dunkelheit, Tod und Hass umgehen – und unsere Sehnsucht nach Licht, Leben, Liebe, die so unendlich groß ist in jedem von uns!“ Ein Soldat soll gesagt haben, dass der dunkle, triste Bunker durch dieses Bild in Verbindung mit einer Kerze die Ausstrahlung einer Kapelle gehabt habe. Der frühere Berliner Bischof Martin Kruse nannte das Bild eine „Predigt des Evangeliums mit dem Zeichenstift“.

Wie ist die Madonna dargestellt? Sie ist im Stil einer Schutzmantelmadonna gezeichnet, mit weichen abstrahierenden Formen. Maria und das Kind – sitzend dargestellt – sind in ein weites Tuch eingehüllt, das den schützenden Aspekt betont. Beide Figuren zeigen ein Lächeln und auf ihre Gesichter fällt Licht im sonst eher von dunklen Schatten dominierten Bild.

LICHT LEBEN LIEBE – nach Kurt Reuber werden diese Worte „zum Symbol einer Sehnsucht nach allem, was äußerlich so in unserem Innersten geboren werden kann“. Während die „Stalingrad-Madonna“ noch als Bild der Hoffnung angefertigt wurde und eine positive Ausstrahlung zeigt, ist die von Kurt Reuber 1943 gezeichnete Madonna mit Kind deutlich düsterer und trauriger gemalt.

Reuber konnte seinem verletzten Kommandeur, der mit einer der letzten Maschinen ausgeflogen wurde, die „Stalingrad-Madonna“ sowie weitere Zeichnungen, Briefe und Schriftstücke für seine Familie mitgeben. Er selbst überlebte die Schlacht von Stalingrad, starb aber 1944 im Gefangenenlager Jelabuga mit 38 Jahren an Fleckfieber. Seine Familie erfuhr erst 1946 von seinem Tod. Durch die Vermittlung des damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens übergab die Familie das Original an die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche als Mahnmal für den Frieden. Eine Kopie wurde an die von der deutschen Wehrmacht zerstörte Kathedrale in Coventry übergeben. Seit 1995 hängt auch eine Kopie in der Kathedrale von Wolgograd (früher Stalingrad).

Als Weihnachtskarte erfährt die „Madonna von Stalingrad“ zum diesjährigen Weihnachtsfest eine traurige Aktualität. Als Mahnung für den Frieden sollte sie stets einen festen Platz einnehmen.

Monika Korthaus-Lindner

(Dieser Artikel stammt aus unserem Gemeinde-Journal „Salz der Erde“, 2022/3, S. 19.)